„On ne naît pas femme, on le devient“, schrieb Simone de Beauvoir. Man wird nicht als Frau geboren, man wird zu einer gemacht. Gleiches gilt für Männer. In der Mode verändert das gerade alles. Ein Report von der Geschlechterfront.
Auf den Straßen von Dalston im Londoner Osten lässt sich der Wandel der Millionenstadt im Vorübergehen begreifen: Neubauten, teure historische Immobilien, dann Spielhöllen und Dönerbuden. Hier arbeitet der Designer Jonathan William Anderson im Maschinenhaus einer ehemaligen Möbelfabrik. „Ich bevorzuge nüchterne und leere Räume“, sagt Anderson. „Wenn wir mit einer Kollektion fertig sind, räumen wir alle Inspirationsquellen ins Archiv. Das gesamte Bildmaterial. Wenn da noch etwas rumliegt, das würde einen nur beeinflussen.“ J.W. Andersons Kleidung ist ein modisches Experiment in der Sphäre von Sex und Geschlecht. Der Mann im Anzug, die Frau im Kleid. Doch wer ist dann noch Mann, wer Frau?
J.W. Anderson, der in den letzten Jahren mit seinem eigenen Label und als Kreativdirektor der spanischen Firma Loewe eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat, will das gar nicht mehr aufklären, wie er an einer Männershorts erklärt: „Die Shorts basieren auf einem Schnittmuster für Frauen. Wo man normalerweise das männliche Geschlecht betont, sind sie flach und eben. Das irritiert die Leute, wenn da was fehlt.“ Die Shorts stammen aus der Männerkollektion aus dem Jahr 2013, mit der J.W. Anderson seinen Durchbruch feierte und die man instinktiv als weiblich beschreiben will: Rüschen-Shorts, Bandeau-Tops, ein Minikleid, das auch an einer Frau viel zu kurz gewesen wäre. Dazwischen klassisch männliches wie Nadelstreifen und schwere Mäntel. Kurze Zeit später präsentierte Anderson nahezu identische Kleidungsstücke für Frauen, die plötzlich ganz anders aussahen: Wirkten die Shorts und Kleider an einem Mann noch unangepasst rebellisch, machten sie an einer Frau plötzlich einen eleganten Eindruck.

Mann, Frau, Junge, Mädchen, in der Mode verwischen die Grenzen mehr und mehr. Als Riccardo Tisci die Transsexuelle Lea T im Jahr 2010 zum Gesicht der Kampagne für Givenchy machte, war das noch ein kleiner Skandal. Mittlerweile fordert uns Bruce Jenner, Olympionike und Vater von sechs Kindern, auf dem Cover der amerikanischen Vanity Fair auf: „Call me Caitlyn.“ Und das ebenfalls transsexuelle New Yorker Model Hari Nef stand erst kürzlich im Mittelpunkt einer Fotostrecke für die Modemarke & Other Stories. Der Tenor in Mode und Medien lautet mittlerweile: Sei Mann, sei Frau, sei, was du willst, solange du du selbst bist.
Das hat auch das Kaufhaus Selfridges erkannt. Das zweitgrößte Ladengeschäft der britischen Insel liegt am anderen Ende Londons, in einer etwas nobleren Gegend, an Europas meist besuchter Einkaufsstraße, der Oxford Street. Hier bei Selfridges wurde der neue Trend der geschlechtslosen Mode, der eigentlich gar kein Trend, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit ist, der Name Agender verliehen. Selfridges installierte im Frühjahr einen sich über drei Etagen erstreckenden Pop-up-Store, in dem Frauen- und Männerkleidung zusammen verkauft wurde. Mit diesem Konzept wollten das Kaufhaus die räumliche Trennung von Herren- und Damenmode hinterfragen, wie sie uns in Geschäften auf der ganzen Welt begegnet. Weil man gemerkt hatte, dass die Kundschaft diese althergebrachte Trennung ohnehin selbstbewusst zu ignorieren begann: Die Dame kauft einen Herrenmantel von Burberry, der Herr eine Jeans aus der Damenabteilung von Saint Laurent. „Uns geht es nicht darum, einfach nur einem Trend hinterherzulaufen“, sagt Linda Hewson, Kreativdirektor von Selfridges. „Agender ist unsere Antwort auf einen grundlegenden kulturellen Wandel.“
Das Interieur gestaltete die Designerin Faye Toogood. Sie wollte den Raum dafür von allem Künstlichen und Kommerziellen befreien. Auf Puppen verzichtete sie komplett. Die geschlechtslose Mode von Gareth Pugh, Yohji Yamamoto und Nicola Formichetti wurde auf Kugeln, Stufen oder Pyramiden drapiert. Auch Rad Hourani, einer der Vorreiter der Unisex-Welle, war dabei. Er sagt: „Ich habe nie wirklich verstanden, wer entschieden hat, dass ein Mann sich anders anziehen soll als eine Frau. Jedes meiner Kleidungsstücke ist neutral, es kann von Männern, Frauen und jedem anderen Geschlecht getragen werden.“ Seit 2007 tragen Männer und Frauen bei ihm nicht nur das gleiche, sondern dasselbe. Seine Mode erinnert ein wenig an die Entwürfe des Österreichers Rudi Gernreich, der die vestimentäre Trennung der Geschlechter schon in den Sechzigerjahren infrage stellte. Damals interessierte das nur kaum jemanden. Gernreich blieb Avantgarde. „Der Mode des vorherigen Jahrhunderts ging es, wenn überhaupt, darum, weibliche Mode männlicher zu machen. Wie in einer von Männern dominierten Gesellschaft zu erwarten“, sagt Shaun Cole, Professor an der University of the Arts in London. Er ist makellos gekleidet. Traditionell maskulin im Dreiteiler mit Einstecktuch. Gernreich war seiner Zeit einfach 40 Jahre voraus. Denn Agender lieferte in diesem Jahr tatsächlich die höchsten Verkaufszahlen im ganzen Haus.
„Was männlich und weiblich bedeutet, wird permanent neu verhandelt. Es ist ein konstanter gesellschaftlicher Dialog“, betont Cole. Doch lange wurden in diesem gesellschaftlichen Zwiegespräch vornehmlich weibliche Themen verhandelt. Seit mehreren Jahren wächst der Markt für Männermode nun stärker als der für die Frauen, es ist ein Markt mit einem Volumen von rund 440 Milliarden Dollar. Auch das könnte ein Grund für die neuen Geschlechterspiele in der Mode sein. Vielleicht inspirierten auch Zahlen den neuen Kreativdirektor von Gucci, Alessandro Michele, dazu, Männer und Frauen, die sich dann auch noch zum Verwechseln ähnlich sehen, gleichzeitig auf den Laufsteg zu schicken.
„Ich möchte einen neuen Weg aufzeigen, um über Schönheit und Sexualität zu sprechen. Es geht mir um Sinnlichkeit“, sagt er. Inspiriert von den Siebzigerjahren, mit Rüschenkragen, Blumen und Vögeln. Ein Oberteil aus seiner ersten Kollektion ist aus feinster roter Spitze. Es ist beinahe transparent und wird von Männern und Frauen gekauft. Der Italiener arbeitet an einer neuen Individualität: „Ich versuche, die Marke von innen heraus zu revolutionieren.“ Und wahrlich, einen größeren Bruch mit dem sexualisierten Jetset-Stil seiner Vorgängerin Frida Giannini hätte man sich kaum vorstellen können.
Diese Entwicklung hat aber nicht nur mit den neuen jungen Designern zu tun, sondern vor allem auch mit der Kundschaft, die diese bedienen. Die etablierten Modemarken haben eine Weile gebraucht, bis sie sich an das Internet und die es bevölkernden Kunden gewöhnt haben. Sie mussten lernen, dass sich ihr Wert nicht mehr nur in Verkaufszahlen, sondern auch in der Zahl ihrer Follower bemisst. Auf einmal müssen sie die Leute nicht mehr nur modisch, sondern auch emotional erreichen. Dem gesellschaftlichen Wandel in ihrer Mode Rechnung zu tragen, ist nur eine, aber vielleicht die edelste Möglichkeit, Zugehörigkeit zu stiften: damit wir nicht mehr nur den Mann oder die Frau sehen, sondern den Mensch.