In einer Welt, in der Likes über Selbstwert entscheiden und digitale Inszenierungen zur Ersatzreligion geworden sind, wagt der italienische Fotograf Giandomenico Veneziani mit seiner Serie „Living a Lie“ einen radikalen Blick hinter die Fassade. Was auf den ersten Blick wie ein ästhetisch perfektioniertes Fashion-Editorial erscheint, entpuppt sich als visuelle Therapie gegen den modernen Narzissmus. Zwischen hochglanzpolierten Oberflächen, entrückten Blicken und dramatischem Licht stellt Veneziani unbequeme Fragen: Was bleibt vom Selbst, wenn das Ich zur Marke wird? Und: Ist der digitale Glanz am Ende nichts weiter als eine schön inszenierte Lüge?

Mit „Living a Lie“ bringt Veneziani nicht nur Mode und Fine Art in einen intensiven Dialog, sondern seziert mit chirurgischer Präzision die emotionale Leere hinter der digitalen Selbstdarstellung – und schafft damit eines der relevantesten Bild-Statements unserer Zeit.
Die Geburt von „Living a Lie“ – Wenn das Bild zur Therapie wird
Die Idee zu „Living a Lie“ entstand nicht aus Kalkül, sondern aus einem inneren Druck, wie Giandomenico Veneziani im Interview mit L’Officiel am 11.06.2025 und dem Autor Maik Justus verrät. „Ich habe das Bedürfnis gespürt, etwas zu erschaffen, das nicht nur schön, sondern auch schmerzhaft ehrlich ist“, erklärt er. Die Serie ist eine Reaktion auf das, was viele fühlen, aber kaum jemand offen anspricht: die Leere hinter der glänzenden Fassade der Selbstinszenierung.
In der Welt von Instagram und hyperkuratierten Feeds sei es längst nicht mehr genug, einfach nur zu sein – man müsse wirken, gefallen, dominieren. „Die sozialen Medien sind zur Bühne des Narzissmus geworden“, so Veneziani. Und genau dort setzt er an. Seine Bilder zeigen Menschen in Posen, die an klassische Porträts erinnern – und doch ist da ein Riss, ein Zweifel, der zwischen Objektiv und Model vibriert. Was dargestellt wird, ist nicht das Ich, sondern das, was vom Ich erwartet wird.
„Living a Lie ist nicht nur ein Fotoprojekt – es ist ein Seismograph für emotionale Instabilität in einer überästhetisierten Welt.“
– Giandomenico Veneziani
Der Fotograf nähert sich dem Thema nicht nur mit kritischer Distanz, sondern auch mit empathischer Tiefe. Seine Bildsprache wirkt wie ein Spiegel, der das Unbewusste sichtbar macht – nicht, um zu entlarven, sondern um zu verstehen.

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Zwischen Fashion und Fine Art – Die visuelle Sprache von Veneziani
Giandomenico Veneziani bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit an der Schnittstelle zwischen Modefotografie und bildender Kunst. Für ihn gibt es keine klare Trennung. „Ich empfinde Kleidung als eine zweite Haut der Seele – sie zeigt, wer wir sein wollen, und oft auch, was wir zu verbergen versuchen“, sagt er im Gespräch.
Die Ästhetik von Living a Lie ist geprägt von einem faszinierenden Kontrast: makellos komponierte Schönheit trifft auf emotionales Unbehagen. In kontrolliertem Licht inszenierte Körper, auf Hochglanz polierte Oberflächen – doch stets liegt ein subtiles Fragezeichen in der Luft. Die Models wirken nie bloß schön, sondern oft entrückt, abwesend oder fragil. Es ist diese stille Spannung, die Venezianis Arbeit so besonders macht.
„Mich interessiert das Unausgesprochene. Der Moment, in dem die Pose bricht.“
– Giandomenico Veneziani
Visuelle Referenzen an klassische Ölmalerei, surrealistische Kompositionen und barocke Lichtführung treffen auf moderne Stylingcodes aus der High Fashion. Das Ergebnis: eine Bildwelt, die zeitlos wirkt und gleichzeitig tief im Jetzt verankert ist. Mode ist hier nicht Trend, sondern Ausdruck – und oft auch Tarnung.
Glory, Isolation & Identity – Was bleibt vom Selbst im digitalen Zeitalter?
Die Serie Living a Lie kreist um ein zentrales Thema: den Wunsch nach Anerkennung in einer Welt voller Unsicherheit. Was treibt Menschen dazu, sich digital zu inszenieren, zu überhöhen – oder gleich ganz neu zu erfinden? Für Giandomenico Veneziani ist die Antwort komplex, aber zugleich persönlich spürbar.
„Der Drang nach Ruhm ist ein Symbol für tiefe Einsamkeit und Unsicherheit. Wenn man seinen eigenen Wert nicht kennt, beginnt die Suche nach Konsens.“
Mit dieser Aussage bringt Veneziani den emotionalen Kern seines Projekts auf den Punkt. Die Bilder sind visuelle Reflexionen einer Gesellschaft, die sich in Selbstdarstellung verliert, weil sie an Selbstsicherheit verliert.

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Auf die Frage, ob soziale Medien eher Bühne, Spiegel oder Täuschung seien, antwortet Veneziani:
„Ich denke, sie sind alles zugleich. Eine Bühne für Eitelkeit, ein verzerrter Spiegel – und oft eine Illusion, in der sich Menschen verlieren.“
Diese Ambivalenz zieht sich durch jedes Bild der Serie. Die Figuren darin wirken kraftvoll und verletzlich zugleich, attraktiv und isoliert, präsent – und doch unerreichbar. Ihre Posen erzählen nicht nur von Mode, sondern von einem menschlichen Bedürfnis nach Sichtbarkeit in einer Welt, in der Nähe oft nur simuliert wird.
Im Interview betont Veneziani, wie stark dieses Projekt auch therapeutischen Charakter hatte:
„Fotografie war für mich schon immer Ausdruck und Heilung zugleich. Sie hilft mir, Komplexität zu ordnen und Emotionen zu kanalisieren.“
So wird Living a Lie nicht nur zum Statement über eine Gesellschaft im Filterrausch, sondern auch zu einem sehr persönlichen künstlerischen Verarbeitungsprozess – ein Dialog zwischen Innen und Außen, zwischen Mensch und Maske.
Von Körpern, Masken und Wahrheit – Das stille Drama der Posen
Die Inszenierung in Living a Lie ist präzise und intensiv. Doch nichts wirkt konstruiert oder kalt – vielmehr entfaltet sich eine stille emotionale Spannung, Szene für Szene. Giandomenico Veneziani betont, dass der Prozess der Modelwahl für ihn kein oberflächliches Casting, sondern ein intuitives Spüren ist:
„Ich wollte Gesichter, die berühren. Menschen, bei denen man den Bruch sieht, nicht das perfekte Lächeln. Schönheit ist für mich dann interessant, wenn sie fragile Risse hat.“
Wir wollten wissen, wie er seine Models auswählt. Geht es um visuelle Wirkung oder emotionale Tiefe?
„Die Auswahl der Modelle basierte nicht nur auf Ästhetik, sondern auf Verbindung. Ich muss fühlen, dass da etwas Persönliches in den Blicken liegt – dass da ein Geheimnis ist.“
Die Kleidung in Living a Lie ist weit mehr als Styling – sie ist zweite Haut, Behauptung, Rüstung und Enthüllung zugleich. Veneziani nutzt Mode, um innere Konflikte sichtbar zu machen. Kleidung wird zur Sprache.
Auf die Frage, ob Kleidung für ihn eher Schutz, Maske oder Ausdruck ist, antwortet er:
„Kleidung ist Wahrheit und Lüge. Sie kann dich verstecken oder sichtbar machen. Manchmal ist sie deine Stimme, manchmal dein Rückzug. Genau diese Ambivalenz interessiert mich.“
Besonders auffällig ist: Seine Modebilder wirken nie wie Werbung. Sie evozieren Gefühle – keine Kaufimpulse. Veneziani fotografiert nicht, um etwas zu verkaufen, sondern um etwas zu zeigen, was sich nicht mit Worten sagen lässt. Das Ergebnis: Eine visuelle Dramaturgie, die zwischen Künstlichkeit und Echtheit oszilliert.

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Von Caravaggio bis Instagram – Wo sich Bildkulturen kreuzen
Was die Serie Living a Lie besonders macht, ist nicht nur ihre emotionale Tiefe, sondern auch die visuelle Signatur: dramatisches Licht, präzise Komposition, ikonische Ruhe. Der Vergleich mit barocken Malern wie Caravaggio ist kein Zufall – und doch begegnet man in Venezianis Bildsprache auch den Codes unserer digitalen Gegenwart.
Wir wollten wissen, ob und welche visuellen Referenzen der Fotograf in seine Arbeit einfließen lässt.
„Ich bin stark beeinflusst von Kunstgeschichte – besonders von der Malerei. Caravaggio, Rembrandt, aber auch von Modeikonen der Neunziger. Gleichzeitig beobachte ich sehr genau, wie sich Menschen heute online inszenieren. Das eine fließt ins andere.“
Es ist genau dieser Bruch zwischen klassischem Bildaufbau und moderner digitaler Kälte, der Living a Lie so zeitlos wirken lässt. Seine Fotografien zitieren nicht einfach – sie transformieren. Sie zeigen, wie sich Eitelkeit, Inszenierung und Identität über Jahrhunderte hinweg gleichen – nur die Bühnen haben sich verändert.
„Instagram ist wie eine Galerie – nur mit sehr kurzer Aufmerksamkeitsspanne.“, sagt er.
„Deshalb muss ein Bild heute nicht nur schön sein – es muss einen stoppen, mitten im Scrollen.“
Veneziani gelingt das – seine Bilder wirken wie eingefrorene Gedanken, aufgeladen mit Symbolik, visuell präzise und emotional verwundbar. Der digitale Raum wird für ihn nicht zum Feindbild, sondern zum Spiegel des Jetzt – und seine Kamera hält diesen Spiegel mutig in die Welt.
Ein kollektives Porträt der Einsamkeit – Warum „Living a Lie“ uns alle betrifft
Während viele Fashion-Editorials ein Idealbild von Schönheit und Stärke reproduzieren, rückt Living a Lie etwas in den Fokus, das in der Modewelt selten sichtbar wird: Einsamkeit, Unsicherheit und emotionale Entfremdung. Venezianis Projekt trifft damit einen Nerv unserer Zeit.
Wir wollten wissen, welche Reaktion er sich vom Publikum erhofft:
„Ich hoffe, dass die Menschen sich selbst darin erkennen – nicht oberflächlich, sondern emotional. Vielleicht stellt sich jemand die Frage: Warum poste ich? Wofür inszeniere ich mich? Und was fehlt mir wirklich?“
Seine Antwort klingt fast therapeutisch – und genau das ist Teil der Intention. Veneziani versteht Fotografie nicht nur als Kunst, sondern als Werkzeug der Reflexion. Jedes Bild aus Living a Lie ist eine Einladung zum Innehalten, zum Hinterfragen der eigenen digitalen Persona – und der Mechanismen, die uns täglich zu Performern machen.
„Ich glaube, wir leben in einer Zeit, in der wir ständig sichtbar sein müssen, um zu glauben, dass wir existieren. Das ist ein wahnsinnig anstrengender Zustand.“
Gerade in einer Branche wie der Mode, in der Images und Illusionen zur Währung geworden sind, ist ein Projekt wie Living a Lie fast schon revolutionär: Es stellt Fragen, wo sonst nur Statements gemacht werden. Es lässt Leerstellen zu – statt Antworten vorzugeben.
Was kommt nach der Lüge? – Zwischen Loslassen, Licht und neuen Projekten
Wir wollten zum Abschluss wissen, ob Living a Lie für Veneziani abgeschlossen ist – oder ob das Projekt in neuer Form weiterlebt.
„Ich arbeite bereits an einem neuen Projekt. Es wird anders, aber der emotionale Kern bleibt: Ich will zeigen, was uns bewegt, zerreißt, antreibt.“
Die Fotografie bleibt für ihn ein Mittel zur Auseinandersetzung – mit der Welt, mit sich selbst, mit dem Zustand unserer Gegenwart. Es geht ihm nicht um Provokation, sondern um Erkenntnis. Darum, Menschen zum Nachdenken zu bringen – und Gefühle sichtbar zu machen, die sonst unter Filtern verschwinden.
„Ich bin kein Aktivist, aber ich möchte Räume schaffen, in denen wir uns echt begegnen können – durch Bilder, nicht durch Masken.“
Fazit – Schönheit, Schmerz und das Sichtbarwerden
Mit Living a Lie hat Giandomenico Veneziani ein Werk geschaffen, das weit über Modefotografie hinausgeht. Es ist ein visueller Kommentar zur Gegenwart, ein psychologisches Porträt einer Gesellschaft im Spiegel ihrer digitalen Masken – und zugleich ein zutiefst persönliches Projekt eines Künstlers, der Schönheit nie als Oberfläche versteht, sondern als emotionalen Raum.
Es bleibt das Gefühl, dass Living a Lie genau im richtigen Moment kommt – in einer Zeit, in der wir mehr sehen als je zuvor, und dabei oft vergessen, uns wirklich zu sehen.
CREDIT SHEET
“LIVING A LIE” by Giandomenico Veneziani
TEAM CREDITS
PHOTOGRAPHERS / CREATIVE DIRECTORS
Giandomenico VenezianiIG @jeanven.official
MODEL
Annasara Napoli @annasaranapoli
FASHION STYLIST
Mariantonietta Amoruso – @mariantonietta_amo
MUA
Mari Amoruso – @mua.mariamoruso
COPYWRITER AND CREATIVE DIRECTOR
Claudia CarulliI – @clo_caru