Der globale Modemarkt steht unter enormem Druck: zu viele Kollektionen, zu wenig Zeit, zu viel Marketing. In diesem Umfeld bringt Demna Gvasalia, Gründer des Kollektivs Vetements und Chefdesigner bei Balenciaga, eine radikal neue Perspektive. Er sieht sich nicht als Modemacher, sondern als „Kleidermacher“ – jemand, der Kleidung entwirft, nicht Mode diktiert. In diesem Interview gibt er exklusive Einblicke in seine Arbeitsweise, Haltung und warum die Zukunft nicht den Trends, sondern den Menschen gehört.
Die Ursprünge: Vom georgischen Chaos zur Pariser Subkultur
Eine Jugend zwischen Umbruch und Stilpluralität
Demna Gvasalia wuchs in Georgien auf – in einer Zeit, in der sich die Welt über Nacht veränderte. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion strömten westliche Einflüsse ins Land: Vogue, Hip-Hop, Goth, Rave. Für Gvasalia war das keine Entscheidung für einen Stil, sondern ein Hunger nach allen.
„Ich wollte alles auf einmal – es war eine soziale Bulimie.“
Pariser Start – Vetements beginnt im Wohnzimmer
Die Idee zu Vetements entstand in Paris, nicht aus Überzeugung, sondern aus praktischen Gründen. Er und zwei befreundete Designer arbeiteten unter der Woche bei großen Labels, am Wochenende nähten sie in seiner Wohnung.
Ein neuer Modestil nahm Form an: unperfekt, roh, ehrlich.
Vetements: Konzept, Kollektiv und Kollaboration
Ein Label ohne Regeln – und doch mit Haltung
Vetements ist kein klassisches Modelabel. Es besteht aus einem wechselnden Kollektiv, produziert nur zwei Kollektionen pro Jahr und nutzt den Kalender der Haute Couture nur taktisch: während andere Vor-Kollektionen zeigen, geht Vetements auf die Bühne.
Tabelle: Vetements auf einen Blick
Merkmal | Erklärung |
---|---|
Gründungsort | Paris (ursprünglich war Berlin geplant) |
Gründungsjahr | Ca. 2014 |
Struktur | Designerkollektiv ohne feste Hierarchie |
Strategie | Zwei Kollektionen jährlich, außerhalb klassischer Zyklen |
Kollaborationen | Levi’s, Carhartt, Manolo Blahnik, Comme des Garçons |
Subkultur statt Luxus – Mode für die Straße
Vetements spielt mit Uniformen, Streetwear, Ironie. Präsentiert wird nicht im Grand Palais, sondern in chinesischen Restaurants, Clubs oder Kaufhäusern – um nah am echten Leben zu bleiben. Kein französischer Chic, sondern internationaler Realismus.
„Wir wollten Kleidung für unsere Freunde machen, nicht für Laufstege.“
Systemkritik: Warum Demna kein Rebell sein will – und trotzdem einer ist
Die Modewelt ist alt – Vetements ist jung
Paris, so Gvasalia, sei lange Zeit von Chichi und Konzernen erstickt worden. Junge Designer hatten keinen Platz. Vetements schuf sich diesen Raum selbst – gegen Widerstände und ohne Zustimmung der Fédération de la Haute Couture.
„Als wir das erste Mal in Paris zeigen wollten, schüttelte man nur den Kopf.“
Rebellion? Nein. Realismus!
Vetements wird oft als Anti-Fashion bezeichnet. Gvasalia wehrt sich: „Wir sind super pro Fashion – nur eben ohne Show.“ Für ihn geht es nicht um Provokation, sondern um Relevanz. Kleidung, die getragen wird – nicht Kunstobjekte im Museum.
Design ohne Dogma: Kleidermachen statt Diktieren
Ein Angebot statt ein Befehl
Während klassische Modekollektionen ein Narrativ oder Thema vorgeben, beginnt Vetements mit einer simplen Liste: Parka, Jeans, Pullover. Dann wird entschieden, ob der Schnitt oversized oder skinny sein soll.
„Ihr Kleiderschrank zu Hause hat ja auch kein Motto.“
Tabelle: Designprozess bei Vetements vs. klassische Labels
Aspekt | Klassische Labels | Vetements |
---|---|---|
Startpunkt | Konzept, Moodboard | Kleidungsstückliste |
Inszenierung | Thema mit rotem Faden | unordentlicher Mix |
Zielgruppe | Idealfigur, Modelimage | reale Menschen mit Persönlichkeit |
Präsentation | Hochglanzshows | Clubs, Restaurants, offene Räume |
Kleidung als Werkzeug – nicht als Kunstwerk
Gvasalia liebt Uniformen – Feuerwehr, Polizei, Security – nicht aus politischem Kalkül, sondern wegen ihrer Wirkung. Aus einem Security-Shirt wurde z. B. ein „Insecurity“-Shirt – ein Spiel mit Bedeutung und Selbstbild.
Identität, Transformation und Ironie
Kleidung verändert – in beide Richtungen
Ein Outfit kann Sicherheit geben, eine Uniform Respekt verschaffen oder Angst auslösen. Kleidung ist kein oberflächliches Thema, sondern eine soziale Waffe – aber eine, die auch Spaß machen darf.
„Ich mag die Ironie daran. Am Ende ist es doch nur Kleidung.“
Anonymität vs. Prominenz: Der Preis des Erfolgs
Vetements startete anonym – weil die Gründer bei anderen Labels arbeiteten. Heute ist Gvasalia das Gesicht, auch weil er zuerst alles auf eine Karte setzte. Der Erfolg kam schneller als erwartet, befeuert durch Social Media und Stars wie Kanye West.
„Wir haben den Hype nicht gesucht – er kam zu uns.“
Marketing, Medien und Menschlichkeit
Keine Kampagnen, keine Promis – sondern Emotion
Vetements lebt von Authentizität. Gvasalia erzählt von einem Teenager, der einen ausverkauften Pullover suchte – er schenkte ihm seinen eigenen. Für ihn zählt nicht Sichtbarkeit, sondern Wirkung.
„Ich hätte fast geweint. Ich wusste: Dafür mache ich das.“
Freitags im Atelier: Kleidung als soziales Bindemittel
Vetements bleibt nah an der Basis: Jeden Freitag lädt Gvasalia Freunde ins Atelier ein – genau jene Menschen, für die er seine Mode entwirft.
Fazit: Vetements ist nicht Anti-Fashion – es ist Post-Fashion
Demna Gvasalia hat das System nicht revolutioniert, sondern ignoriert. Statt Trends zu diktieren, entwirft er Kleidung für Menschen, die sich in keine Schublade pressen lassen. Vetements ist kein Hype, sondern Haltung. Kein Rebell – nur jemand, der lieber real bleibt als brillant inszeniert.